EU-Projekt:
Bürger aus den Benelux-Staaten
als NS-Verfolgte im Zuchthaus Hameln 1942-1945
Die Interviews
Interview zum Schicksal von Marius Jonker Roelants
mit seiner Tochter Anneke Geerdes und seinem Enkel Maarten Geerdes
in der Wohnung von Anneke Geerdes in Schiedam am 27. April 2013
Maarten Geerdes, Mario Keller-Holte, Joke Mooij und Anneke Geerdes
(von links)
Anneke Geerdes zeigt einen Ring.
Was ist das für ein Ring?
Zu meinem Geburtstag hat er ihn gemacht. Das war in Vught oder in Amersfoort. Das hat er im Kamp Amersfoort in der Freizeit als Geschenk für mich gemacht. Das ist eine Erinnerung für mich. Maarten wusste nichts davon.
Ich habe meinen Vater viele Male in Rotterdam im Gefängnis besucht, dreimal pro Woche. Sprechen konnte ich nicht mit ihm, aber Dinge abgeben. Es gab dort einen Paternosterlift. Der Wachmann holte ihn in den Paternoster und ebenso mich; dort waren wir kurz zusammen. Die anderen Wachmänner wussten davon nichts. Der Wachmann war sehr nett. Ich konnte meinem Vater dann Lebensmittel geben und ein wenig mit ihm sprechen. Dann musste ich wieder gehen.
Können Sie Ihren Vater ein bisschen als Menschen beschreiben.
Er war ein sehr netter Vater für mich. Wir waren uns sehr nahe. Er arbeitete als Weinhändler. Er tat viel für die Stadt Schiedam, die Kirche usw. Er organisierte die Pfadfinder, die Wasser-Pfadfinder.
Wir waren sehr eng miteinander. Ich war die Älteste von zwei Schwestern und 17 Jahre alt, als er ins Gefängnis kam. Ich musste meiner Mutter helfen. Meine Mutter war sehr „upset“ (verstört). Ich hatte gerade die Schule beendet und stand vor dem Studium; so hatte ich Zeit, ihn zu besuchen.
Warum wurde Ihr Vater verhaftet?
Er war in der Stadt sehr bekannt, tat sehr viel für die Stadt und die Kirche. Die Deutschen meinten, er hätte zu viel Einfluss. Deswegen haben sie ihn verhaftet.
Im Urteil steht: Er war ein Spion.
Nein, das war er nicht. Er hat mir davon nicht erzählt; ich weiß davon nichts.
Hatte er je daran gedacht, dass er verhaftet werden könnte?
Nein. Er wusste, dass er auf einer Liste der Deutschen stand und hat deswegen meist woanders geschlafen. Ich weiß aber nicht, wo das war. Meine Schwester (damals 15) war einmal sehr ärgerlich, weil er an ihrem Geburtstag nicht zu Hause war.
Wenn er Kontakte nach England gehabt hätte, so hätte er das nicht seinen Töchtern erzählt und auch nicht seiner Frau.
Leute hatten ihm eine Pistole gegeben. Die hat er in eine Wanduhr als Versteck getan. Eine Museumspistole.
Maarten: Großvater hat sehr viel gesammelt, altes Porzellan, alles was mit Schiedam zu tun hatte, viele alte Sachen. Er hatte viel Geld von Seiten seiner Frau. Er hat auch alte Waffen gesammelt. Seine Frau wollte nicht, dass sie im Hause sind. So gab er sie weg zu einem Freund. Dann bat er eine Waffe zurück, um seine Frau und seine Töchter beschützen zu können. Darunter war eine alte Erste Weltkriegswaffe, eine Pistole. Der Freund hat davon der Polizei erzählt. Das brachte ihn ins Gefängnis.
Zeigen ein Foto der Familie von 1936.
Seine Frau war mehrere Jahre älter als er.
Konnte sie beim Prozess anwesend sein?
Nein. Wir wussten nur, dass der Prozess in Utrecht war. Da wurde er zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Und dann wurde er nach Rheinbach transportiert. Er war dort sehr zufrieden, weil er auf einem Bauernhof arbeiten konnte. Er mochte das. Er war sehr kräftig. Meine Mutter war einmal dort zu Besuch. Der Rechtsanwalt meiner Mutter hat das ermöglicht.
Maarten: Sie haben gefragt, ob ein Besuch in Rheinbach möglich war. Rheinbach hatte gesagt: das ist nicht möglich. Vom Besuch steht auch nichts in der Personalakte. Sie hat auch nichts davon ihren Kindern erzählt. Sie war nicht sehr kommunikativ. Aber sie war tatsächlich dort.
Einmal im Monat kamen Briefe.
Kamen sie regelmäßig?
Nein, nicht regelmäßig.
Hat die Mutter ihnen die Briefe vorgelesen?
Das weiß ich nicht mehr.
Für ihre Mutter war das sehr schwer?
Ja, sie war völlig „upset“. Der Arzt kam; sie weinte. Sie sprach nie darüber. Meine Schwester war damals auf einer Internatsschule. Ich war zu Hause. Ich habe damals für mein Leben gelernt, Dinge zu relativieren. Ich habe das wegen meiner Mutter gelernt.
Hatten Sie Hilfe von Freunden aus Schiedam?
Meine Mutter kam aus einer großen, wohlhabenden Familie. Mein Vater arbeitete in Geschäften der mütterlichen Familie. Die Familie war groß und sie hat geholfen.
War er beim Prozess der einzige Angeklagte?
Ich hörte später, dass es drei Leute waren. Wir wussten tatsächlich gar nichts.
Maarten: Ich habe die Prozessakten gelesen: Es waren fünf Männer.
War es eine Widerstandsbewegung?
Maarten: Nein. Das war eine schreckliche Geschichte. Es gab damals viel Not in den Niederlanden, besonders von Leuten auf den Schiffen, Seefahrern. Marius selbst war auch Seefahrer. Sie haben Geld für die Leute gesammelt. Aber sie haben den Leuten das Geld nicht gegeben.
Zwanzig haben die Deutschen festgenommen. Einige kamen in KZs, einige ins Zuchthaus, einige wurden freigelassen. Es war keine Widerstandsorganisation. Das ist sehr schade. Sie haben Geld für wohltätige Zwecke gesammelt, haben das aber zweckentfremdet.
Mein Großvater Marius war sehr antideutsch eingestellt. Er suchte nach Wegen, um eine Art Widerstand zu organisieren. Er hat den falschen Leuten vertraut.
Die Mutter hat von der Regierung eine Pension als Kriegsopfer bekommen. Damit ist er als Kriegsopfer anerkannt.
Dass er nach Hameln gekommen ist, wussten wir nicht. Nachdem er aus Rheinbach weg war, gab es keine Briefe mehr von ihm. Wir wussten nicht, dass er in Hameln war. Wir wussten nur, dass er Rheinbach verlassen hatte. Das war schrecklich.
Wie war das für Sie?
Ich musste nach meiner Mutter schauen, dass sie ruhig war. Ich musste vor allem auf ihre Probleme achten. Das war das Wichtigste für mich. Das war schrecklich.
Der letzte Brief vom 28. August 1944 stammt aus Rheinbach. Das war nicht mehr so lange bis zum Ende.
Dann hat er Neujahr 1945 einen Brief geschrieben. Das war sein letzter Brief.
Maarten: Meine Mutter hat mir gesagt, er war zuletzt in einer „Steingrube“. Aber wir hatten keine Idee, wo die Steingrube war. … Später haben wir gefunden, dass das in Holzen/Hecht war.
Hier ist ein Brief, zwei Schreiber, auf der eine Seite schrieb mein Vater. Ich weiß nicht, wie der Brief von Deutschland nach Holland gekommen ist. Wahrscheinlich ist dieser Brief erst nach dem Krieg angekommen. Ein Brief von einem Mr. Kamp. Ich erinnere mich, dass meine Mutter nicht wusste, was sie damit anfangen sollte. Es ist kein Ort angegeben, nur „Steingrube“.
Maarten: Ein Umschlag von diesem Brief existiert nicht. Ich weiß nicht, wie der Brief hierhergekommen ist. Wahrscheinlich hat ihn jemand nach Holland mitgebracht.
Es ist interessant zu sehen, dass das Papier immer schlechter wird. Es gibt keine Noten; ein schrecklich kleines Stückchen Papier.
Das war kein offizieller Brief, der über die Zuchthausverwaltung gelaufen ist?
Das war ein Brief ohne Briefmarken. Bei den offiziellen Briefen sieht man auch den Zensor. Es ist etwas sehr besonderes, diese Briefe zu lesen.
Wann haben Sie von seinem Tod erfahren?
Eine Person hat gesagt, er habe ihn lebendig auf einem Bahnhof in Holland gesehen. Der hat meiner Mutter geschrieben. Wir warteten, aber er kam nicht.
Dann hörten wir von Mr. Bieler, Marius sei im Mai befreit worden. So warteten wir die ganze Zeit. Das war eine sehr schwierige Zeit voller Ungewissheit.
Sie haben auch Briefe von einem Herrn Schöne bekommen, der in Holzen im Lazarett war.
Paul Schöne war Bewacher in Holzen/Hecht. Dort war die „Steingrube“. Hier sind die Briefe von Paul Schöne. Das Interessante ist, dass Schöne nicht wusste, dass Vater tot ist. Er schrieb viel später, Juli 1948.
Maarten zitiert aus dem Brief:
Als früherer Sportschwimmer war Schöne interessiert an Damenschwimmen. Sie haben auch über Eierkognak (Advokat), dessen Herstellung seine Spezialität war, gesprochen.
Ihre Mutter hat dann sehr intensiv versucht, das Grab zu finden.
Sie haben in Berlin gefragt. Aber der Name war nicht korrekt geschrieben. So haben sie ihn nicht gefunden. Sie wollte ihn zurück nach Holland holen, holten aber den falschen Leichnam, was man an den Zähnen sah. Das war eine große Enttäuschung für sie.
Er war in Salzwedel im Hospital, und da hat man die Körper vertauscht. Das ist sehr schwer, wenn man nicht weiß, wo das Grab ist.
Sie haben vorhin gesagt, Sie haben 70 Jahre nicht deutsch gesprochen. Ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen war belastet.
Deutschland war „finished“ für mich. Ich bin auch nie nach Deutschland gereist. Vor drei Jahre bin ich zum ersten Mal dort gewesen. Aber ich wollte nicht deutsch reden.
Maarten: Wenn wir in die Schweiz zum Urlaub fuhren, fuhren wir über Frankreich, nicht über Deutschland.
Als ich dann vor drei Jahren in Deutschland war, habe ich alles akzeptiert. Du musst es für Dich tun. Nach 70 Jahren musste ich abschließen. Wenn Sie 88 sind, so müssen Sie abschließen.
Haben Sie Ihren Kindern davon erzählt?
Nein, es ist zu schwierig.
Und mit Ihrer Mutter darüber gesprochen?
Für meine Mutter war es zu viel. Als sie im Altersheim war, ging es ihr etwas besser. Wenn wir ihr sagten, wir fahren in Urlaub, so wurde sie drei Tage vorher krank. Sie hatte wirklich Fieber. Das war die Folge des Stresses.
Vor zwei-drei Jahren haben Maarten und Franka (Maartens Schwester, d. Verf.) Sie gefragt, ob sie Forschungen über Ihren Vater machen können.
Nein, fragen war da nicht nötig (Sie lacht darüber.)
Das Schicksal meines Vaters war während meines ganzen Lebens ein Geheimnis. Es hat mein ganzes Leben erfüllt. Aber jetzt ist es für mich beendet.
Als Maarten und seine Frau nach Auschwitz fuhren, da hab ich ihm zum ersten Mal von seinem Großvater erzählt.
Krieg hat schreckliche Folgen für die Seelen der Menschen. Ich hab das Problem mit meinem Vater. Das geht über Generationen.
Maarten: Hier habe ich den Brief von Oma an das Rote Kreuz vom Dezember 1946. Sie hatte damals immer noch keine Gewissheit über den Tod und über sein Grab. Deutschland war für sie Feindesland. Sie wollte seine Leiche so schnell wie möglich zurückholen.
An Maarten: Was bedeutet das Fehlen des Großvaters für Sie?
Ich denke, man weiß das gar nicht; man lebt. Wir lebten im Haus der Großmutter. Ich habe da nichts vermisst. Mein anderer Großvater war auch gestorben. Ich bin 1951 geboren. Es war nicht so einfach. Meine Großmutter war immer traurig, sie war nicht einfach. Meine Schwester Franca hat sie aber ganz anders erlebt.
Erst später habe ich den Verlust erlebt. Ich hätte einen jungen Großvater gehabt. Wir hatten dieselben Interessen: Boot, Segeln, Fischen. Dass wir vieles gemeinsam hatten, habe ich erst später entdeckt.
Anneke: Ich hab noch seinen Reisepass. 1941 war er in Leipzig auf der Messe. Den Pass hat er sich ausstellen lassen, um die Messe in Leipzig zu besuchen.
Zeigt alte Bilder mit ihrem Großvater, ein Zeugnis der Grundschule.
Aus dem Krankenhaus in Salzwedel ist nichts von seinen Sachen mehr zurückgekommen.
An Maarten: Was war für Sie der Auslöser, das Buch zu schreiben?
All diese Geschichten, die über den Großvater erzählt wurden: er sei im Widerstand gewesen, habe eine Pistole in der Uhr versteckt, sei in Deutschland an Dysenterie gestorben. Es waren Geschichten, aber wir wussten nichts Genaues. Ich hatte auch nichts von dem Prozess gewusst. Tatsächlich waren alle diese Geschichten wahr.
Bei der Beschäftigung mit dem Großvater ging es auch um mein eigenes Leben, nicht nur um das Leben des Großvaters.
Auf dem Gymnasium wollte ich kein Deutsch lernen. Als ich zum ersten Mal nach Deutschland fuhr, sprach ich kein Deutsch. Das war etwas Unbewusstes, was da rüberkam.
Meine Schwester Franca sagte: Ich träume immer von den Deutschen, ihrer Armee, von Überfällen. Das ist bei ihr noch immer da.
Darum ist es gut, das zu machen, damit die Familie Klarheit bekommt.
Sie sind ja nicht mehr so jung. Was war konkret der Auslöser?
Ich war in einem Therapie-Kurs. Da ging es um Lebensfragen. Es war auch in der Zeit, wo ich aus meinem Beruf ging.
Und da ging es um die Frage: Was hat Dir Schmerzen bereitet? Ich habe über meine Scheidung und über meinen Sohn, der nicht ganz gesund ist, gesprochen.
Es ging weiter: Was war der Schmerz Deines Vaters, deiner Mutter? Meine Mutter hat ihren Vater verloren, in Deutschland.
Und es ging weiter: Sind sie dort gewesen und haben sein Grab besucht? Nein, da bin ich nicht gewesen. Aber das ist eine gute Frage. Dann mach ich das.
Der Kurs war in Utrecht. Und dann bin ich zu meiner Schwester Franca gegangen. Sie sagte: Da geh ich mit.
Wir hatten drei Monate Zeit. Wir sind zu all diesen Gefängnissen gefahren. Ich hatte ursprünglich nicht den Plan, in die Archive zu gehen. Ich bin kein Historiker. Das habe ich dann aber doch gemacht.
Wie sind Sie auf Hameln gekommen?
Wir waren in Rheinbach und wussten nur, dass wir anschließend nach Salzwedel mussten, weil er dort gestorben ist. In Rheinbach hat uns der Archivar das Tagebuch von Vermeeren gegeben. Und da wurde uns klar, dass all die Häftlinge im September 1944 von Rheinbach nach Norden transportiert worden sind.
Wir wollten dann weiter nach Salzwedel, haben auf dem Weg zunächst Siegburg besucht. Dort fanden wir nichts. Wir überlegten dann, nach Ziegenhain, Kassel oder Hameln zu gehen. Da sagte ich, wir gehen nach Hameln. Hameln lag am nächsten zu Salzwedel. Wir sind ohne Termin ins Stadtarchiv nach Hameln gegangen. Bernhard Gelderblom war da. Wir hätten es ohne ihn nicht gefunden. Bernhard hatte all die Daten.
Nein es gibt keinen Zufall. Es sollte so sein.
Ich hatte im Internet nicht den Namen Ihres Großvaters veröffentlicht.
In Holzen/Hecht sind wir bisher nicht gewesen. Das planen wir für später. Ich möchte, dass wir die letzte Strecke Hameln, Holzen, Krümme, Salzwedel Kaserne, Salzwedel Krankenhaus gemeinsam zu Fuß machen. Das möchte ich zu der Zeit machen, wie Großvater das gemacht hat, also im April. Das machen wir nächstes Jahr. Da möchte ich auch die Familie und die Enkel mitnehmen. Das ist dann der Abschluss.
Da möchten wir mit Ihnen zusammen gehen. Mein Plan ist, dass wir in Hameln in das Hotel gehen, das früher das Zuchthaus war. Und die Strecke, wo er sehr krank geworden ist, gehen wir zu Fuß.
Haben Sie da viel draußen geschlafen?
Ja, auf der Strecke von Krümme nach Salzwedel mussten sie viel draußen schlafen.
Von Hameln aus sind sie vermutlich mit der Bahn gefahren (ca. 200 Mann), über Hannover nach Celle.
Nein sie sind einen anderen Weg gefahren, nicht über Celle, sondern nach Isenbüttel-Gifhorn und von dort nach Wesendorf.
Wir sagen ganz herzlichen Dank für das Interview.
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