EU-Projekt:
Bürger aus den Benelux-Staaten
als NS-Verfolgte im Zuchthaus Hameln 1942-1945
 

Die Interviews

Interview zu Ortar De Pauw
mit seinem Sohn Eric De Pauw am 27. April 2014
 
in seiner Wohnung in Oostende, Belgien

 

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Bernhard Gelderblom und Eric De Pauw

Willst Du dich bitte vorstellen.

Ich bin Eric De Pauw. Ich bin geboren in Tervuren 1939, vor dem Krieg. Der Krieg hat ja angefangen im September (1939 bzw. im Mai 1940 in Belgien, d. Verf.).
Ich habe in Gent studiert und in Brüssel. Ich war 33 Jahre, als ich zurück zur Universität gegangen bin, zur Freien Universität Brüssel.
Ich habe zuerst im Unterricht gearbeitet drei Jahre, dann habe ich angefangen in großen Firmen zu arbeiten, z.B. Esso, und dann in kleineren belgischen Firmen. …
Eines Tages saß ich im Büro und fragte mich: Was mach ich hier noch? Ich möchte etwas anderes tun. Ich möchte mit meinen Freunden Bildhauern. Ich habe mit der Bildhauerei angefangen 1991, bis 2004. Da bin pensioniert worden und da waren meine Hände kaputt, so dass ich aufhören musste.
Seitdem schreibe ich, hauptsächlich Gedichte. Ich glaube, ich habe fünf Gedichtbände publiziert. Das ist alles, was meine Persönlichkeit betrifft. …
Ich habe immer viel zu tun gehabt mit dem Krieg, wegen des Todes meines Vaters und meines Bruders (ist sichtlich bewegt).
Mein Bruder, der in ´40 gestorben ist, das hat mich immer interessiert und ich habe immer gesehen, was das bei uns zu Hause gemacht hat.
Mein Vater war Beamter, aber auch Politiker, z.B. war er ein guter Freund von Camille Hausmans und von Spaak (=(Paul-Henri Spaak, 1899-1972, führender Politiker vor und nach dem Krieg, Mitglied der Exilregierung, „Gründervater“ der EU, NATO-Generalsekretär, d. Verf.), den Sie sicherlich kennen.
Mein Vater ist ja viel zu früh gestorben. Er war Politiker, Sozialist, aber sehr sozial fühlend. Z.B. ist er in den Gemeinderat von Tervuren gekommen als allererster Sozialist. Da hat die ganze italienische Kolonie von Tervuren – alle Italiener, die Eis verkauften, wohnten in Tervuren (= gehört zum Großraum Brüssel, d. Verf.) – für ihn gestimmt.
Denn eines Tages hat mein Vater einem italienischen Kind das Leben gerettet, das durch ein Apfelstück am Ersticken war. Er war zufällig vorbeigekommen, ist hingelaufen und hat es mit dem Kopf nach unten hochgehoben, hat auf den Rücken geschlagen, so dass das Apfelstück rauskam.
Auch die Bauern …
Mein Vater war Freiwilliger 1917/18. Da hat er die Front „sauber gemacht“, und er war bei den sog. „Fliegenden Kanonieren“, der Artillerie zu Pferd. Er kannte sich mit Pferden aus. Wenn ein Pferd krank war, Koliken usw. hatte, hat man meinen Vater gerufen. Da gab er ihm einen bestimmte Likör zu trinken. Das half.
Er hat es nicht gestohlen; er hat es mit seiner Persönlichkeit gemacht (= seinen guten Ruf, seine geachtete Position, d. Verf.).

Was war er von Beruf?

Er war im Zentralpostamt von Brüssel, … und als der Postminister ein Sozialist war, kam mein Vater in das Kabinett des Ministers (d.h. er war im Postministerium tätig, d. Verf.), jedes Mal, wenn ein Sozialist Minister war.
Ein guter Freund von ihm, Camille Hausmans, ein sehr bekannter Politiker in Belgien, ist Minister gewesen, und Spaak, der Nato-Generalsekretär geworden ist. (auch Spaak war schon vor dem Krieg in verschiedenen Ministerämtern, so auch Postminister, d. Verf.). Er hat Meetings gegeben, d.h. er sprach für den Minister.
Er war sehr gegen den Faschismus eingestellt. Als Franco den Umsturz in Spanien gemacht hat, da sind die Linken, die gegen ihn gekämpft haben, geflüchtet. Da sind viele nach Belgien gekommen. Bei uns zu Hause waren deswegen viele Menschen. Er hat solche Flüchtlinge aufgenommen, sie versorgt, ihnen Geld gegeben usw. Das war typisch für meinen Vater.

In den Akten steht auch als Beruf „Lebensmittelkontrolleur“. Was bedeutet das?

Wir wohnten in Tervuren, in der Nähe von Brüssel, sehr schön, mitten im Wald. Alle sechs Kinder sind da geboren. Aber mein Vater kannte Westflandern, die Gegend von Yper (= Ypern, d. Verf.) – Mesen (= Messines, d. Verf.), weil er da Ende des (Ersten) Weltkrieges gearbeitet hatte, und er hat zu meiner Mutter gesagt: wir müssen weg (aus Tervuren), denn in der Nähe von Brüssel wird im Krieg alles viel teurer. Wir ziehen um nach Mesen. Denn das war eine landwirtschaftliche Gegend.
So sind wir 1941 nach Mesen umgezogen. Dort konnte er im Postamt nichts machen. Da ließ er sich versetzen in die Behörde für Bevorratung von Lebensmitteln und ist Kontrolleur geworden. Dadurch kam er in der Gegend rum, konnte von einem Bauernhof zum anderen fahren, ohne kontrolliert zu werden. So konnte er anfangen für die Engländer zu arbeiten, für den Transport (abgeschossener) englischer Piloten über die Grenze nach Frankreich, in Richtung Spanien. Und er war im bewaffneten Widerstand. Er hatte eine Waffe.

War er zum Einsatz der Waffe bereit?

Ich war zu klein, um beurteilen zu können, ob er diese auch eingesetzt hätte. Ich kann es mir aber vorstellen, schließlich war er ja im Militär gewesen. Ich habe die Waffe noch gesehen. Als mein Vater verhaftet wurde, hat mein Bruder das Gewehr genommen und in die Jauchegrube geworfen. Nach dem Krieg habe ich dann als Kind mit diesem Gewehr „das Haus bewacht“; da war ich ganz stolz.

Kannst Du etwas über diese Widerstandsgruppe sagen?

Das waren Leute aus Mesen und aus Yper. Mesen war Marcel de Witte, ein Berufsmilitär, ein Armeeoffizier, das war der Chef meines Vaters. Den habe ich gut gekannt nachher. Als ich nach dem Krieg schon in Gent wohnte, gingen wir am Sonntag zu ihm oft auf Besuch. Er wohnte in der Nähe von Gent in einer Kaserne, den haben wir Kinder alle gekannt.

Das war eine Untergruppe?

Ja, Mesen war eine Untergruppe von Yper. Das waren viele alte Berufsmilitärs, die da drin waren. Die ganze Familie von de Witte, die Brüder, gehörten alle dazu.

Es war wahrscheinlich allgemein bekannt, dass der Vater gegen die deutsche Besatzung war?

Ja, die Gruppe natürlich, vielleicht noch andere Leute – ein Mann hat ihn angegeben (= bei den Deutschen denunziert, d. Verf.). Vor 10 Jahren musste ich zur Polizei, um für diesen Mann, dessen Namen ich vergessen habe, Amnestie zu geben. Alle mussten unterschreiben, ob er diese bekommen soll oder nicht.

Hat er zahlreiche Menschen verraten?

Mehrere aus der Gegend Yper-Mesen. Ich glaube, es war ein Arbeitskollege meines Vaters. Die Familie kannte ihn aber nicht.

Welches Motiv hatte er?

Scheinbar hatte er getrunken und in der Wirtschaft das große Wort geführt.

Du warst 4 Jahre alt.

Als mein Vater verhaftet wurde, er ist im September 1943, seit Juni war ich vier.

Du hast eine Erinnerung an Deinen Vater?

Ich habe drei Erinnerungen (kämpft mit den Tränen):
Zuerst meine Schwester Nora. Sie ist 16 Monate älter als ich (Julia ist sechs Jahre älter). Wir waren beide krank, Masern. Wir lagen in der Küche auf einem Chaiselongue mit Fieber, und ich sehe noch den Tisch mit meinem Vater und den deutschen Offizieren. Wir hatten ein Krankenrevier (= der Besatzer, d. Verf.) im Haus. Sie saßen bei uns in der Küche, weil es wärmer war als in ihrem Büro – die eine Seite war Büro und die andere Esszimmer und Küche – ich sehe noch meinen Vater da sitzen.
Und ich erinnere mich, dass ich auf der Stange seines Fahrrades gesessen habe – er machte ja alle seine Besuche bei den Bauern mit dem Fahrrad. Autos gab es nicht – und er zu mir sagte (kämpft mit den Tränen): Du sollst Deinen Mund zu machen, sonst erkältest Du Dich (macht eine Handbewegung am Ohr, was ausdrücken soll: Die Stimme des Vaters habe ich noch im Ohr).
Und ich erinnere mich: bei einem Bauern, da habe ich ein Butterbrot bekommen und mein Vater hat ein Paket mit Fleisch bekommen. Denn als Inspektor für Bevorratung hat er zugunsten der Bauern berichtet (bei der Aufnahme ihrer Abgabeverpflichtungen weniger angegeben als tatsächlich vorhanden war).

Und die Verhaftung selbst?

Die Verhaftung – meine Schwester ging in die Schule, ich war natürlich noch zu Hause. Ich sehe noch die zwei Männer – ob es Gestapo war oder Geheime Feldpolizei, weiß ich nicht – aber mehr erinnere ich mich nicht.

Deine Schwester Julia hat uns ja erzählt, er habe sich gestellt.

Ja, um seine Familie zu schützen. Meine Schwester weiß da mehr. Sie war ja 10 Jahre alt.

Er ist zuerst im Gefängnis Kortrijk gewesen.

Zuerst im Gefängnis von Yper, dann in Kortrijk, dann in Brügge.

Da waren noch Besuche möglich?

Meine Mutter hat ihn in Kortrijk gesehen, in Yper noch nicht. Besuche waren in beiden Gefängnissen nicht erlaubt, weil er noch nicht verurteilt war.
Das Gefängnis von Kortrijk war in der Nähe des Bahnhofs. Meine Mutter ist auf einen Kohlewaggon geklettert und hat ihn von dort am Fenster gesehen.

Hat Deine Mutter ihn in Brügge nach der Verurteilung besuchen können?

Nein, sie ist nie in Brügge gewesen, nur seine Schwester. Sie ist später dann nach Löwen gefahren, wo sie ihn im Gefängnis besucht hat.

Die Gestapo bzw. die Feldpolizei hat auch geschlagen?

Ja, mein Vater ist geschlagen worden. Als meine Mutter ihn das erste Mal besuchte, sagte sie, er solle sich doch setzen, woraufhin er antwortete: Ich kann nicht. Sie fragte weiter, was mit seinen Zähnen geschehen sei. Antwort: Die haben sie ausgeschlagen.

Weißt Du etwas über den Prozess?

Nein, gar nichts.

Er hat, wenn man das so sagen darf, eine relativ geringe Strafe bekommen.

Ja, das lag daran, dass die Besatzer nicht gewusst haben bzw. nicht beweisen konnten, dass er antideutsche Propaganda gemacht hat (er machte Karikaturen, mit denen die Besatzer lächerlich gemacht wurden), dass er im bewaffneten Widerstand war. Bei den Hausdurchsuchungen haben sie nichts gefunden. Sie haben alles mitgenommen. Nach dem Krieg haben wir einen Teil vom belgischen Staat zurückbekommen, d.h. wir sind zum Teil entschädigt worden.

Er hat keinen verraten.

Nein, nach ihm ist keiner mehr verhaftet worden.

Weißt Du, ob andere aus seiner Gruppe verhaftet worden sind?

Sein Kommandant Marcel de Witte war im Gefängnis von Kortrijk. Als dort der Bahnhof bombardiert wurde, wurde auch das Gefängnis getroffen, sodass große Löcher in der Mauer waren. Der belgische Gefängnisdirektor animierte ihn daraufhin zur Flucht. De Witte kam zu uns zum Schlafen; er konnte ja nicht nach Hause. Ich weiß noch, dass das Fenster immer offen stand, um ihm immer freie Bahn zu geben, falls die Flucht notwendig gewesen wäre. Er ist nicht mehr verhaftet worden. Er tauchte dann bis zum Kriegsende in Brügge unter.

Dass Dein älterer Bruder gestorben ist, ist auch eine Kriegsfolge?

Noch in Tervuren, direkt nach Kriegsbeginn, war meine Mutter alleine mit den Kindern, da mein Vater unterwegs war, um die Kasse des Postamtes nach England zu schicken. Da wurde Tervuren evakuiert, da man davon ausging, in Tervuren würde englische Artillerie zur Verteidigung Brüssels stationiert und die Stadt läge damit im Schussfeld.
Meine Mutter musste dann zu Fuß mit den Kindern, ich und eine Schwester im Kinderwagen, Tervuren verlassen. Als diese Stationierung nicht geschah und die Besetzung durch die Deutschen erfolgt war, kehrte sie mit den Kindern zurück in ihre Wohnung. Mein Bruder ist nach der Rückkehr (kämpft mit den Tränen) krank geworden und drei Tage später gestorben. Meine Mutter sagte häufig versehentlich Rudy zu mir; das war sein Name. Er war der Drittgeborene.

Wie hat Eure Mutter Euch durch den Krieg bekommen?

Die älteste Schwester war bei Onkel und Tante in Gent. Sie ist dort immer geblieben. Sie ist jetzt 86 Jahre. Vier waren also zu Hause. Unterstützung hat es wenig gegeben. Vom Widerstand kam Hilfe in Form von Lebensmitteln und Brennstoff, kaum Geld. Als mein Vater offiziell tot war, wurde in Mesen ein Gedenkgottesdienst organisiert. Es kam ein Brief von Spaak und Hausmans, wo sie sich entschuldigten, dass sie nicht dabei sein könnten.

Von Brügge ist Dein Vater ins Gefängnis St. Gilles in Brüssel gekommen.

Ja, aber nur sehr kurz, dann nach Löwen, wo er auch nicht sehr lange war, und von dort – bzw. von St.Gilles, wo die Transporte zusammengestellt wurden – auf Transport nach Rheinbach. In den Unterlagen ist auch von Antwerpen die Rede, aber dort war er nicht. Von Aachen als Zwischenstation weiß ich nichts.
Von Rheinbach hat mein Vater Briefe geschrieben. Dort ging es ihm recht gut, die Versorgung war ok., wenngleich er auf Außenkommandos hart arbeiten musste.
Der Briefwechsel endete mit dem Abtransport nach Hameln. Danach gab es keinerlei Kontakt mehr. Dass er nach Hameln kam, wurde nicht mitgeteilt.
Besuche gab es in Rheinbach nicht mehr, anders als noch in Löwen. Das lag wohl daran, dass es dort einen engagierten Rechtsanwalt gab, der sich für die Gefangenen einsetzte.
Heute ist eine Zelle im Löwener Gefängnis Museum.

Die Männer, die nach dem Krieg über den Vater berichtet haben, Fleury und Gandrie, hat er im Gefängnis kennengelernt?

Fleury war kein politischer Gefangener; er saß wohl wegen Diebstahls. Solange sie zusammen waren, hat er für meinen Vater gesorgt (kämpft mit den Tränen). Vom Bahnhof in Bad Liebenwerda bis zur Wiese vor dem alten Kurhaus hat er meinen Vater getragen, obwohl er selbst tief erschöpft war (= nach Ankunft des Todesmarsches aus Hameln. Vater De Pauw starb wenig später, d. Verf.).

Von diesen beiden Männern habt Ihr ja erst vom Tod erfahren.

Gandrie hatte mein Vater schon in Rheinbach kennenlernt. Sie kannten sich aus dem Krankenrevier, in dem Gandrie Arzt und mein Vater Patient war und auch deshalb, weil mein Vater wegen seiner Mehrsprachigkeit zum Blockältesten bestimmt wurde.

Was schreibt Gandrie über Deinen Vater, zum Trost für Deine Mutter?

(Kämpft mit den Tränen) Mein Vater war Optimist. Er versuchte immer, die anderen Gefangenen aufzurichten. Deswegen stimmte er abends, wenn sie todmüde auf ihren Pritschen lagen, Lieder an, so „Santa Lucia“ auf Italienisch. Gandrie hatte offensichtlich sehr viel Respekt vor meinem Vater.

Auf welche Weise hat sich Fleury bei Deiner Mutter gemeldet?

Er hat zunächst Kontakt mit dem Mesener Bürgermeister aufgenommen. Dieser hat die Direktorin der Schule beauftragt, zusammen mit Andre (Schwiegersohn, d. Verf.) meiner Mutter die Todesnachricht zu überbringen. Das habe ich noch vor Augen. Sie ist dann mit dem Bürgermeister, der ein Auto hatte, nach Brügge zu Fleury gefahren, der sehr krank war. Er ist dann bald gestorben, an den Folgen der Strapazen der Haft und des Todesmarsches.

Was ist von offizieller Seite aus passiert?

Zuerst gab es die Ehrung in Mesen, einen Gottesdienst; sein Name kam auf ein Ehrenmal, wovon wir nichts wussten. Später als wir nach St. Amandsberg umgezogen sind (= sein Geburtsort, wo noch die Großeltern lebten, d. Verf.), kam sein Name dort auf ein Ehrenmal. Bei der Einweihung war meine Mutter dabei. Weil er Gemeinderat war in Tervuren, wurde er auch dort später geehrt. Die Ehrung in Tervuren haben wir zufällig im Nachhinein erfahren von seinem Nachfolger im Gemeinderat, der sein Freund war. Er hat uns das Bild von dem Straßennamen geschickt.

Was hat das Schicksal des Vaters für Dich bedeutet?

Ich bin vaterlos aufgewachsen. Meine Mutter war eine wunderbare Frau. Sie hat mich immer gut unterstützt und aufgefangen. Natürlich hat der Vater trotzdem gefehlt. Meine Mutter machte das politische Engagement des Vaters für sein Schicksal verantwortlich. Sie war deshalb vehement gegen politische Aktivitäten, die ich aber auch nicht beabsichtigt habe.
Als ich in Brüssel bei Esso gearbeitet habe, musste ich in die Nähe ziehen. Ich bin mit meiner Familie bewusst nicht nach Tervuren gezogen, um von vorneherein nicht in Gefahr zu geraten, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Vor allem der Mutter zuliebe.
Überhaupt lebte der Geist des Vaters in der Familie fort, indem Schwestern und Mutter häufig und immer wieder über ihn sprachen, ihn als Vorbild hinstellten, mir auch mitunter mit Berufung auf ihn Vorwürfe machten.

Wie war es für Dich in der Schule?

In der Grundschule waren Direktor und eine Lehrerin alte Widerständler, was mir nicht zum Nachteil war. In der Mittelschule war ich bei den Pfadfindern, bei denen ich die ehrenvolle Rolle des Fahnenträgers erhielt.

Hast Du etwas vom Umgang mit Kollaborateuren mitbekommen?

In meiner Familie nicht. Ein Onkel schloss 1940 sogar sein Ofengeschäft, um nicht für die Besatzer arbeiten zu müssen. In Mesen gab es das natürlich. Ich habe als Kind mitbekommen, wie der Widerstand ein paar Straßen weiter einen Metzger, der Kollaborateur war, mitsamt seiner Familie umgebracht hat. Das war wohl 1944. Ich sehe noch die Leute mit Fahrrädern ankommen und ins Haus eindringen, dann die Schüsse. Nach dem Krieg habe ich damit nichts zu tun gehabt. Meine Mutter war gar nicht damit einverstanden, den Frauen, die sich mit Deutschen eingelassen hatten, öffentlich die Haare zu scheren.
Meine Mutter hatte direkt nach dem Krieg natürlich Hass auf die Deutschen, später aber nicht mehr.

Hat Deine Mutter versucht, den Leichnam nach Belgien zu überführen?

Sie hat sich informiert. Da kam aber die Antwort, dass das aus der Ostzone nicht möglich wäre. Jahre später hat man sie kontaktiert mit dem Angebot, es wäre jetzt möglich. Da hat sie jedoch abgelehnt. Sie sagte: Es sind jetzt schon so viele Jahre; was wird man mir geben: Reste meines Mannes oder etwas anderes. Sie wusste durch Fleury, dass er in einem Massengrab lag (kämpft mit den Tränen). Sie wollte nicht wieder alles erleben.

Was bedeute das fehlende Grab für die Familie?

Als Ersatz stand ein Bild auf dem Schrank. Daneben wurden zu bestimmten Anlässen Blumen gestellt.

Du wolltest dann mehr über den Todesort in Bad Liebenwerda erfahren.

Das ist eine lange Geschichte. Ich habe einem Freund davon erzählt. Der sagte, dass er die Gegend kenne, dass fast jedes Dorf ein Monument für die Opfer hat. Fünf bis sechs Jahre später habe ich mich daran erinnert, und da habe ich in Bad Liebenwerda angerufen beim Touristenamt und nach einem Monument gefragt. Dort wollte ich gerne Blumen zum Gedenken hinlegen. Dies wurde verneint, aber sie haben mich an das Stadtarchiv verwiesen. Im April 2009 habe ich dort angerufen. Sie fand schließlich den Zettel mit der Todesmeldung, auch etwas über den Begräbnisort. Wenig später, im Juni, kam dann die e-mail, sie würden ein Monument setzen. Dies alles geschah natürlich auch mit Hilfe aus Hameln.

Wie steht die nächste Generation, Deine Kinder, zu eurem Familienschicksal?

Wenig Interesse, bis auf eine Nichte, die 1950 geboren ist. Sie fragt immer nach, will alle Informationen darüber haben. Meine Kinder können sich kaum mehr an ihre Großmutter erinnern. Das Schicksal des Großvaters ist für sie viel zu abstrakt.

Wie hat sich der belgische Staat nach dem Krieg verhalten?

Meine Mutter musste einen Antrag auf Anerkennung als politisch Verfolgter stellen, dazu auch Belege und Zeugenaussagen beibringen. 1951 kam die Anerkennung und damit eine Kriegspension. Bis dahin hat sie einen Vorschuss erhalten. Die Höhe richtete sich nach der Zahl der Monate in Haft.
Eine Beamtenpension hat sie natürlich unabhängig davon gehabt. Für die Kinder gab es doppeltes Kindergeld.
Außerdem hat mein Vater posthum eine Medaille bekommen. Darauf war eine bestimmte Anzahl von Sternen, diese Zahl war von der Länge der Gefangenschaft abhängig.

Eric, wir bedanken uns sehr herzlich bei Dir.

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