EU-Projekt:
Bürger aus den Benelux-Staaten
als NS-Verfolgte im Zuchthaus Hameln 1942-1945
 

Die Interviews

Interview mit Germaine Schaeger-Mathias
und ihrer Tochter Marie-Claire Schaeger-Mathias
am 6. Juli 2013 in Rodingen, Süd-Luxemburg

 

Germaine Schaeger-Mathias ist die Tochter des Stahlarbeiters Jean-Pierre Schaeger (Jg. 1893) und seiner Frau Marie (Jg. 1892) und jüngste Schwester von Albert (Jg. 1920), des ältesten Sohnes der Eheleute Schaeger.
Germaine Schaeger-Mathias ist beim Interview 83 Jahre alt. Sie ist 2014 – wenige Monate später – verstorben.

 

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Germaine Schaeger-Mathias
mit ihrer Tochter Marie-Claire Schaeger-Mathias beim Interview
in der Wohnung von Germaine in Rodingen, Luxemburg

In der nicht aufgezeichneten Eingangssequenz des Gesprächs kommt Germaine auf eine Trauerrede für ihren Bruder Albert zu sprechen, die bei der Beerdigung 1946 gehalten wurde. Die Rede befindet sich unter ihren Papieren. Germaine betont, dass sie dieselbe all die Jahre immer „im Kopf“ hatte und trägt sie in deutscher Übersetzung vor.

 „…
Ich habe dich gekannt und geachtet.
Schon in jungen Jahren mit Gaben des Geistes befrachtet,
zogst du hinaus, um dein junges Leben zu leben.“

(Stockt.) Ich weiß nicht mehr weiter. Ich geh es suchen. (Fährt dann aber doch fort):
„Nach dem Hohen, dem Großen, ging stetig dein Streben,
hast dich nicht vor den schuftigen Braunen ergeben.
Gott gibt dir im fernen Grabe die ewige Ruh;
das tropf‘ dir aus allen Sternen dazu.“
Das ist das Totengedicht, das sein Griechisch-Professor am Gymnasium für ihn geschrieben hat.

 

Das ist etwas Besonderes. Das war eine persönliche Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.

Er (=ihr „großer“ Bruder Albert) ging mit mir spazieren, wenn er Zeit hatte. Im Herbst gingen wir Ähren aufheben. Dann gingen wir zusammen auf die Felder; er hatte einen großen Korb, ich einen kleinen. Wenn die Bauern die Garben geerntet hatten. Die ganzen Ferien gingen wir zusammen auf die Felder.
Da hatten wir in einem Jahr … wir haben die Ähren ausgeklopft … wir hatten einen Zentner Weizen ausgeklopft. Das war für die Hühner, für deren Futter. Man bekam ja nichts im Krieg für die Tiere. Einen ganzen Monat lang haben wir das gemacht.

In Deutschland gab es die Hungerharke. Die Leute hatten das Recht, damit über die Felder zu gehen.

(Zeigt ein Schulheft von Albert) Er war ein sehr guter Schüler.

Was heißt LRL?

Luxemburger Freiheitskämpfer (= Widerstandsgruppe „Luxemburger Roter Löwe“, benannt nach dem Wappentier Luxemburgs).
Ich weiß noch, wie er im Krieg vereidigt wurde. Da kamen die von der LRL; zu zwei Mann waren sie. Sie kamen zu uns nach Hause. Es musste im Geheimen passieren. Wir durften da nicht mit hinein. Mein Bruder ging hinein. Die hatten ein Bild von der Fahne, dem rot-weiß-blauen Band. Da schwor er drauf. Dann gingen sie wieder weg. Da war er in der LRL.

Wissen Sie, wie alt er damals war?

Er ist 1920 geboren. Der Krieg fing 40 an.

Die LRL wurde im Oktober 1941 gegründet. War er aktives Mitglied? Wissen Sie, was er gemacht hat?

Dummheiten. Für ihn waren es Dummheiten. Für Luxemburg war das Patriotismus.

Aber das hat die Gestapo nicht gewusst?

Nein, wir hatten ja ein Versteck. Die Eltern hatten noch sein Gewehr zu Hause – von dem Deserteur, den wir versteckt hatten – und das mussten sie ja los werden. Da ging einer zusammen mit meinem Bruder morgens um 4 Uhr auf einen Berg und da stand eine Blechhütte; da versteckten sie das Gewehr zwischen zwei Steinen.

Also, so etwas hat er gemacht. Das war schon sehr gefährlich.

Ja.

Und ihr Vater war nicht bei der LRL. Wollte er nicht, oder konnte er nicht?

Nein, er wollte nicht. Aber er war auch Patriot. Durch und durch Patrioten waren wir.

War Lamadelaine, wo sie wohnten, ein Dorf oder eine Stadt?

Ein Dorf, 450 Einwohner.

Gab es Kollaboration?

Oh ja, viel.

Sie mussten auch viel Angst haben vor Ihren Nachbar?

Ja! Sie begründeten es nicht, dass sie deutschfreundlich waren. Sie trugen so eine gelbe Uniform.

Wie war das nach dem Krieg?

Die wurden ja alle ins Gefängnis gesteckt. Und als sie nach Jahren wieder kamen, hat man nie mehr miteinander gesprochen, nie mehr.

Sind die Leute von der LRL zu Ihnen gekommen, nachdem Ihr Bruder verhaftet worden ist?

(Schüttelt den Kopf) Nein, das wurde alles im Geheimen gemacht. Wir bekamen Geld geschickt. Wir wissen noch heute nicht, von wem. Wir wurden unterstützt von denen. Und die Differdinger, wo mein Vater im Stahlwerk gearbeitet hat, die haben uns auch ganz gut unterstützt.

Die Firma oder die Kollegen?

Das weiß ich nicht. Das kam mit der Post, in einem Briefumschlag. Das war alles geheim, ohne Unterschrift. Ich weiß nicht, von wem wir Geld bekamen. Aber es kam immer Geld. Wir zwei haben keinen Hunger gelitten, wir hatten genug Geld. Wir haben Geld gespart; nach dem Krieg wurde das Geld umgetauscht: deutsches Geld gegen unser Geld. Aber wir können keinem Danke sagen; wir wissen nicht, wer das war.

Und dass Sie den Wehrmachtsdeserteur versteckt haben, das war Zufall?

Das hing mit Albert zusammen. Das war ein Freund von Albert. Der wohnte in Rollingen (= Lamadelaine). Sie waren oft zusammen: Valmassoni, Francois. Steht das nicht in der Villa Pauly?

Wir haben das vergessen zu fragen. Hier steht, Francois wurde in Sonnenburg erschossen. Von daher muss er auch eine Akte in der Villa Pauly haben.

Er hat vier Familien ins Verderben gerissen. Sein Vater wurde am selben Tag verhaftet wie mein Vater. Und seine Mutter musste auch nach Luxemburg zum Gericht und die wurde auf dem Gericht verhaftet. Und zu Hause saß ihre Tochter Margret, die war zwanzig, die hatte Tuberkulose. Die kam direkt nach Deutschland in ein Sanatorium. Also auch die ganze Familie hat gelitten. Die Margret, die starb durch die Tuberkulose. Die kam noch nach Hause nach dem Krieg. Sie starb, der Bruder erschossen. Die Mutter und der Vater haben noch ein paar Jahre gelebt.

War der Francois leichtsinnig? Hat er einen Fehler gemacht?

Er wollte nicht fortlaufen. Er sagte: Ich gehe zurück (= zur Wehrmacht). Er wollte seinen Eltern das Leid nicht antun. Die wären nach Deutschland zwangsumgesiedelt worden. Da hat sie (= seine Mutter) gesagt: er soll gehen, er soll sich verstecken. Und da war er ein paar Tage in Rollingen im Versteck. Und da wurde deren Cousin verhaftet, und da bekam die Frau Angst.
Und wir waren gut mit diesen Leuten. Und da hat sie meinen Bruder gefragt, ob wir ihn drei Tage nehmen könnten. Und da haben wir Ja gesagt. Und daraus wurden sechs Wochen. Ich weiß noch, wie er abends fort ging aus dem Haus, wie er abgeholt wurde von denen, die ihn über die Grenze nach Belgien bringen wollten.

Das Haus, in dem Sie damals wohnten, das steht noch?

Das steht noch, aber es wohnen andere Leute drin.

Wie haben Sie ihn versteckt? War er immer im Versteck?

Nein, er saß in der Stube. Mittags gab meine Mutter ihm das Essen ins Zimmer. Und abends, da wurde alles zugesperrt, da kam er mit zu uns zum Kaffeetrinken. Und er ging mit meinem Bruder schlafen; die zwei lagen in einem Bett. Hinaus ging er nie, nein.

Gab es ein besonderes Versteck für den Fall, dass die Gestapo kam?

Nein, darauf waren wir nicht eingerichtet.

Wovor musste man denn Angst haben, dass die Nachbarn einen verraten oder dass die Gestapo vorbei kommt?

Wir wussten, wir taten etwas Verbotenes. Die Türe musste immer geschlossen sein, auch wenn der Milchmann kam.

Und man wusste nicht, wem man trauen konnte?

Ich hatte eine Freundin, deren Vater deutschfreundlich war; der hatte die gelbe Uniform an. Die kam oft zu mir spielen, als er bei uns zu Hause saß – um das Haus, aber nie im Haus. Und da sagte meine Mutter: Germaine, du lässt die Mathilde zu Hause. Bring sie nicht mehr mit zu uns. Schade, ich ließ sie nicht mehr zu mir kommen zum Spielen. Sie hätte ja einfach in die Küche kommen können.
Ich wusste, dass ich den Mund halten musste. Ich habe nie etwas erzählt. Das hat mir meine Mutter gesagt.

Wurde in der Familie gesagt: Es ist besser, wenn Du jetzt gehst; wir können Dich nicht so lange hier halten?

Nein. Wir wurden verlängert, von Woche zu Woche wurden wir verlängert: Dann kommt er weg, dann kommt er weg, so ging das sechs Wochen lang. Und das Brot war knapp.

Sie hatten ja keine Marken.

Nein. Wir mussten ihn so mit durchziehen. Und seine Mutter saß später mit meiner Mutter zusammen in Ziegenhain (= deutsches Zuchthaus).

Sind die beiden zusammen in einem Prozess verurteilt worden?

Ja, in einem Prozess. Sie saß vorne und wurde auf dem Gericht verhaftet.

Und sie können sich erinnern, wie er abgeholt wurde? War das nachts?

Oh, das war abends, so gegen 19 Uhr. Das war im Februar. Er ging nach Belgien, Battincourt (= Dorf gleich jenseits der Grenze).

Und er wollte da zum Widerstand gehen?

Das weiß ich nicht. Er wurde dann ganz schnell verhaftet.
Die Deutschen mussten Wind bekommen haben. Da war ein Pastor, bei dem er verhaftet wurde. Und der hatte 10-11 Mann versteckt. Und alle kamen sie fort. Weg. Er hatte mehrere Verstecke, dieser Pfarrer.
Francois war der letzte, der die Treppe runter kam. Er hat sich gar nicht bemüht, fortzulaufen. Er lief der Gestapo in die Hände.

Der Pfarrer, Paul Ley, wurde ebenfalls verhaftet und mit den Schaegers nach Hameln verschleppt, anders als sie aber 1945 befreit.
Machen Sie dem Francois einen Vorwurf? Kann man ihn kritisieren?

Er wurde auch gefoltert. Aber es hat mir nicht weh getan, wie er erschossen wurde. Ich habe kein Mitleid mit ihm. Er hat ein furchtbares Unglück über die Menschen gebracht.
Und sie (= die Mutter) hat immer gesagt: Unser Francois war es nicht. Und wir hatten nur einen im Haus; da konnte nur er es gewesen sein. Es wurde ja auf dem Gericht auch sein Name genannt.
Und dann kam sofort die Gestapo und hat uns alle verhaftet, sonntagmorgens, 26. März 44, das vergesse ich nie.

Und Sie wurden alle mitgenommen?

Irene und ich konnten zu Hause bleiben. Irene hatte keine 18 Jahre und ich hatte 14 Jahre. Sie wollten Irene auch mitnehmen, aber ich hab geschrien, hab mit den Füßen auf den Boden gestampft: „Ich bleib nicht allein!“
Da hat der eine von der Gestapo gesagt: Sie können ja zu den guten Nachbarn gehen. Meine Mutter hat gesagt: Die Germaine sehen wir nie mehr wieder. Die kommt jetzt nach Deutschland in ein Lager und da verschwindet sie. Das war ihre Angst.
Aber sie haben dann miteinander gesprochen. Der Gestapochef hieß Sterzenbach.

Das haben Sie alles im Kopf!

(Strahlt) Ja. Wie in einem Computer.

Und wie lange waren sie dann im Gefängnis Grund (= Stadtteil der Hauptstadt Luxemburg)?

Ich glaube, auf dem Gericht waren sie dann so am 3. oder 4. August (= tatsächlich am 3. August). Das weiß ich nicht mehr genau. Mein Bruder hat noch einen letzten Brief geschrieben: „Ich schreibe Euch das letzte Mal aus Luxemburg.“

Da war Luxemburg fast schon befreit!

Am 10. September 44 waren die Amerikaner hier.
(Blättert durch Papiere). Hier ist ein Brief, den der Griechisch-Professor an meine Mutter geschrieben hat, wie er gehört hat, dass mein Bruder tot war. Lesen Sie einmal.

Das ist der, der das Gedicht geschrieben hat?

Ja. Das war sein Griechisch-Professor auf der Schule.

Und Sie konnten Ihren Vater und Ihre Mutter auch besuchen in Grund?

Ich durfte nie hineingehen, ich war zu jung. Irene ging. Einmal hat Albert geschrieben: Geh zu einem Advokaten und bitte um einen Besuchsschein. Da ging Irene hin und bekam einen Besuchsschein. Aber ich durfte nie mit rein. Meine Mutter stand dann am Fenster, das war ein Fenster mit Gittern. Irene war dann bei ihr, und es war eine Aufseherin bei ihr. Eine halbe Stunde konnte sie mit ihr sprechen, und dann sagte Irene zu ihr: Germaine ist da draußen vor der Tür. Dann kam sie zum Fenster und hat mich da gesehen.

Wurde ihre Mutter auch in die Villa Pauly (= damals Hauptsitz der Gestapo in Luxemburg-Stadt) gebracht? Wurde sie geschlagen?

Ja, in die Villa Pauly wurde sie gebracht. Von Schlägen hat sie nie etwas gesagt.

Aber Ihr Bruder und Ihr Vater?

Die wurden malträtiert! Meinen Bruder haben sie die Kellertreppe runter geschmissen. Es saß ein Rodinger bei ihm in der Zelle. Der hat uns das nach dem Krieg erzählt: „Sie haben Albert gut genommen!“ (= im Sinne von „vorgenommen“, zur Brust genommen). Flecken hatte er überall, ja. Aber meinen Vater auch. Ich hab da nie mit ihm darüber gesprochen. Ich hab ihn nicht mehr gesehen.

Ihre Mutter hat Ihren Vater und Ihren Bruder beim Prozess gesehen und dann nie mehr?

Ja, nie mehr. Der Prozess war das letzte Mal, wo wir zusammen waren. Aber wir konnten ja nicht mit ihnen sprechen. Wir haben sie gesehen, oben, wo sie saßen.

Was für eine Erinnerung haben sie an Ihren Bruder und Ihren Vater?

Mein Vater hatte abgenommen. Er war couragierter als mein Bruder. Meine Mutter war auch sehr gedemütigt; die saß … Meine Schwester war frei gekommen.

Und ihr Vater?

Er war mutig. Albert hab ich nicht wiedererkannt. Er war zusammengefallen. Der Bruder meines Vaters war auch auf dem Gericht. Der Advokat hat dann gesagt: Macht ihnen ein gutes Schinkenbrot. Und dann bitte ich darum, dass sie auf die Toilette gehen können. Und mein Onkel ging auch diesen Moment auf die Toilette mit dem Butterbrot in der Tasche.
Da hat schon ein Spion das gehört, dass sie sich auf der Toilette treffen würden, und da gingen sie zu einem anderen WC. Sie begegneten sich aber nicht. Mein Onkel kam wieder und hatte noch immer die Butterbrote in der Tasche. Er konnte ihnen die Brote nicht geben. Und mein Bruder saß da und wir haben gewinkt und ihnen eine Geste gemacht: Du bekommst jetzt etwas zu essen. Meinem Vater haben wir auch so gewinkt.
Es ging daneben. Nichts zu machen.

Also der Advokat war verlässlich?

Ja, das war ein guter Luxemburger. Ja, das war ein guter Mann.

Wie war die Gerichtsverhandlung? Haben Sie alles verstanden?

Ja.

Wie lange hat sie gedauert?

Die fing morgens an. Es war fast Mittag, als sie fertig war.

Und da waren beide Familien?

Ja, die Valmassonis waren da. Er (= der Sohn Francois) war ja schon im Gefängnis.

Und Francois, war er auch vor Gericht?

Nein.

Der hatte einen späteren Prozess?

Das weiß ich nicht. Nein, der war nicht da.

Der Richter, wie hat er sich verhalten?

Nicht gut für sie. Und der Ankläger auch nicht.

Wie hieß das Gericht? War das ein Sondergericht?

Ja, ein Sondergericht (= das NS-Sondergericht Luxemburg).

Wo hat es getagt?

Im Alten Gerichtsgebäude in Luxemburg(-Stadt). Auf dem Fischmarkt. Das Gebäude steht noch. Da wurden sie verurteilt.

Albert hat eine höhere Strafe bekommen als seine Mutter und sein Vater.

Ja. (Sie weiß die Strafhöhe nicht mehr genau).

Ihre Eltern bekamen je 5 Jahre, ihr Bruder 5 ½.

Mein Bruder hat einmal zu meinem Vater gesagt, er möchte Priester werden. Das wollte mein Vater nicht. Und da war einmal eine Versammlung. Der Griechisch-Professor Fauss hat gesagt, er möchte Geistlicher werden. Aber mein Vater hat es ihm verwehrt.

Und nach dem Prozess wurden sie sofort nach Deutschland gebracht?

Ja, den letzten Brief, den hab ich von ihm. (Sucht den Brief). Wenn ich ihn finde, lasse ich ihn für Sie kopierten. Ich muss das suchen. … Hier ist sie, die Anklageschrift vom Sondergericht. 10. Juli 1944.
Hier sind alle Namen, Albert, Johann Peter … und die Eltern Valmassoni …
Hat das mit dem europäischen Parlament zu tun, was ihr da macht?

Ja, mit der europäischen Kommission. Aus der Kultursparte werden Projekte gefördert, die sich mit den beiden demokratiefeindlichen Bewegungen befassen, mit den Nazis und dem Stalinismus.

Das wir nicht noch einmal in den „prison“ kommen.

Die wollen auch, dass die Völker sich besser verstehen.
Sie sagen, Sie hassen die Deutschen. Und ich kann das gut verstehen. Aber wenn wir so miteinander sprechen, wie wir das heute tun, ich glaube, so hat auch noch kein Deutscher mit Ihnen gesprochen. Und das ist vielleicht auch für Sie ein Zeichen, dass Deutschland sich geändert hat.

Nein. Sie können ja nichts dafür, was Hitler alles gebracht hat.

Es muss aber auch darüber gesprochen werden. Ich hab mich immer gefragt: Hat sich der deutsche Staat bei Ihnen entschuldigt?

Nie.

Warum eigentlich nicht. Und wenn wir heute so miteinander sprechen, dann ist das gut für die Völker.

Ja, das ist Völkerverständigung. Man kann es nicht vergessen.

Das dürfen Sie auch nicht. Das ist ein ganz wichtiges Wissen, das Sie da im Kopf haben. Sie müssen es auch an Ihre Tochter weitergeben.

Sie ist auch die, die sich am meisten dafür interessiert. Simone (= eine der Töchter von Germaine) sagt: Ich kann das nicht sehen.
Marie-Claire: Meine Geschwister, die können das (= die Fotos) nicht sehen; dabei ist ja nichts dabei.

Von da ab (= seit der Verlegung nach Deutschland) wussten Sie überhaupt nichts mehr. Ich habe gehört, dass Albert aus Holzen-Eschershausen einen geheimen Brief, ein Kassiber, nach Luxemburg geschickt hat.

Wir haben nie etwas bekommen.

Ich habe hier noch die Dinge, die in der Villa Pauly (= heute ein wichtiges Dokumentationszentrum für den nationalen Widerstand Luxemburgs) liegen.

Die Mutter kam am 5. Juli (1945) nach Hause. Da wussten wir aber schon, dass sie tot waren. Da kam ein Freund von ihnen, der hieß Michel Bock (= Michel Bock, Leidensgenosse im Zuchthaus Hameln) der sagte uns, dass sie tot wären. Der kam und der Pfarrer und der Schullehrer. Die drei kamen, morgens kamen sie.
Michel Bock erzählte, er sei bei ihnen gewesen, und Albert sei immer kränker geworden. Er bekam nichts zu essen. Bis er auf einmal gesagt hat: Albert ist tot.
Mein erster Gedanke als Kind war: Dann will ich aber zu meinem Vater. Und zwei Minuten später kam Michel Bock auch damit: Der Vater ist auch tot. Da brach eine Welt für mich zusammen.
Und die Mutter: Wir wussten gar nicht, wo die war. Und einmal abends – sie kam von Hamburg Fuhlsbüttel (= Zuchthaus), sie wurde von den Engländern befreit – kam der Schullehrer wieder, mit dem Velo, und da sagte er: Die Mama ist auf dem Weg. Und wir hatten schon schwarze Kleider da, wir wussten ja, es sollte eine Messe gehalten werden, und der Schullehrer hat geholfen, alle Trauerkleider zu verstecken, dass sie sie nicht sehen sollte. Und da kam sie zur Tür herein, ich lief ihr noch entgegen. Sie sagte direkt: Oh, was bist Du groß geworden! Und das erste, was sie sagte, wie sie zur Tür hereinkam: Sind Vater und Albert noch nicht daheim? Dann kommen sie auch nicht mehr. Deutschland ist ein Trümmerhaufen.

Sie mussten ihr gar nicht mehr sagen, dass sie tot sind?

Doch, dann kam das dicke Ende. Da war sie so drei Tage zu Hause. Die Nachbarn kamen Guten Tag zu sagen. Da mussten wir schon in den Flur, um ihnen zu sagen, dass sie nichts sagten vom Vater und dem Bruder.
Und da kam der Michel Bock einmal mittags und setzte sich auf die Bank hinter dem Haus und sagte: Ich war bei Ihnen gewesen, und erzählt und erzählt, bis er dann heraus hat, dass Albert tot war. Und da sagte er zu mir: Habt Ihr etwas zu trinken im Haus? Ich lief in den Keller eine Flasche holen. Da hatte ich keinen Korkenzieher, die Flasche aufzumachen. Dann hab ich den Korkenzieher von der Nachbarin geholt, die ihn geliehen hatte, und habe die Flasche aufgemacht. Dann hat meine Mutter ein paar Schlucke getrunken. Dann sagte er ihr auch vom Tod des Vaters. Das war zu viel für sie. Da war alle Lebenslust fort. Zehn Jahre hat sie dann noch gelebt.
Da war sie froh, wie Marianne (= Germaines ältestes Kind) auf die Welt kam. Da fing sie an, wieder lebendiger zu werden. Da ging sie mit ihr im Kinderwagen spazieren. Marianne war 14 Monate alt, wie sie gestorben ist.

Das ist dann ihr Lebensinhalt geworden. Sie war wieder froh. War sie für Sie noch eine gute Mutter?

Ja, immer. Ich war die jüngste. Ich hatte eine gute Mutter.

Hier wird Edi Schmit genannt (aus dem Archiv der Villa Pauly). Eduard Schmit war ein Leidensgenosse der beiden Schaegers im Zuchthaus Hameln und in Eschershausen.

Ja, der war bei ihm, als er starb. Das war der Nudelfabrikant von Esch. … Mein Vater hätte das Zuchthaus geschafft. Er war gewohnt zu arbeiten. …
Meine Mutter hat das Ehrenkreuz bekommen. Ein Minister war dabei.

Ein Hauptwachtmeistert Schöne in Holzen wird als Zeuge benannt für den Tod.

Nein, ich weiß nichts über ihn. Wir haben keine Nachrichten aus Deutschland bekommen.

Keinen Brief, nicht einen Zettel?

Nein, nichts. Wir hatten keinen Totenschein. Marie-Claire hat ja erst später die Totenscheine mitgebracht.
Marie-Claire: Ich habe die angefragt aus Deutschland, und die haben dann die Totenscheine geschickt.
Germaine: 1953 haben wir geheiratet. Man sagte mir auf dem Standesamt: Wenn es richtig gehen würde, müssten Sie jetzt nach Eschershausen gehen und den Totenschein Ihres Vaters holen. … Nur weil Ihr Vater in Rollingen begraben ist, lassen wir das durchgehen.
Wir kannten den Bürgermeister, so ging es.

Gab es vom Luxemburgischen Staat aus eine Todeserklärung?

Ja, die kam. Das kam durch das Gericht. Das stand auch in der Zeitung.

Wann haben Ihr Vater und Ihr Bruder das Ehrenkreuz bekommen? War das vor oder nach der Exhumierung der Leichen?

23. Januar 1947. Da waren sie schon hier begraben.

Wann wurden sie nach Luxemburg zurückgebracht?

Den 18. Oktober 1946.

Können Sie das beschreiben, wie das war? Das Begräbnis und wie die Särge angekommen sind.

Die Särge kamen mittags um 1 Uhr. Es war ein Totenwagen von Diekirch, ein Auto mit Anhänger. Die Särge lagen seit Montag in Luxemburg in der Morgue (= Leichenhaus). Irma war dort gewesen. Wir durften die Särge nicht ins Haus hineinnehmen. Wir wussten nicht wohin mit den Särgen. Ich telefonierte mit der Gemeinde. Die war auch überrascht von der Ankunft der Särge.
Und dann kamen alle, der Pastor, der hatte zwei lange (National-)Fahnen. … Da lief ich, die Fahnen über die Särge zu legen. Die Särge standen auf Böcken. Das waren keine schönen Särge, einfache Holzsärge. Da legten wir die Fahnen darüber. Da ging meine Mutter zu dem Sarg meines Bruders. Und da sagte sie: Albert, was haben sie mit dir getan! Sie ging zuerst zu dem Jungen, dann zum Vater.
(Sie weint). Dann wurden sie begraben. Viele Leute … Die Musik von Niederkorn war da, die Musik von Rodingen, alle Vereine. Die Vereine waren aufgestellt bis zum Friedhof, ich weiß nicht, wie viele Leute da waren. Dann wurden sie begraben. Es war Herbst. 18. Oktober. Die Sonne ging unter und fort waren sie. Das ist so.

Und das Ehrenkreuz folgte 1947. War das auch eine Zeremonie?

Das war keine Feier. Das wurde geschickt, von der Großherzogin.

Haben Sie noch Kontakt gehabt zu Mitgefangenen?

Nein, wir haben niemanden gekannt von denen, die mit ihnen in Eschershausen waren.

Der Bock, ist der auch weit weg von Ihnen?

Ja, der wohnt auch weit weg, Richtung Belgien, bei Asselborn (Nord-Luxemburg). Freundinnen meiner Mutter, die sie aus dem Zuchthaus kannte, die kamen. Die waren alle da, als Vater begraben wurde.
Auf Alberts Sarg lag ein rohes Holzkreuz. Und da stand drauf geschrieben: Dem unbekannten Freiheitskämpfer. (Zeigt): Das war so groß (ca. 80 cm). Da hat meine Mutter gesagt. Das Kreuz geht mit ins Grab.
Der Edi Schmit war bei ihnen, wie er starb. Der hat die Rede gehalten. Der hat gesagt: Wir waren dabei, wie sie eingesargt wurden. Der Edi Schmit hat die Leichen bei der Exhumierung mit gesucht. Es war ein Rumé dabei (= Gustave Rumé starb am 10. Februar 1945 in Eschershausen). Die drei kamen zusammen im Sarg zurück.
Edi Schmit hatte meiner Mutter fest in die Hand versprochen: Wir gehen nach Eschershausen und bringen die Särge mit. Meinem Vater haben sie nach seinem Tod keinen Sarg mehr gegeben. Sie haben ihn in den Steinbruch gelegt.

Es waren insgesamt etwa 40 Luxemburger in Eschershausen inhaftiert.

Wir haben nie einen gesehen, nie Kontakt zu anderen gehabt. Nur meine Mutter bekam immer Besuch von einer Bäckersfrau aus Oberkorn; die brachte selbstgemachte Nudeln mit.

Die Exhumierung, war das ihr Wunsch, oder machte das der Staat?

Das machte der Staat. Edi Schmit ist mitgegangen. Das war alles kostenlos, auch das Begräbnis.

Sie lagen ein gutes Jahr in Eschershausen bis zur Exhumierung.

Hier ist die Rede, die Edi Schmit am Grab hielt. Es wurden drei Reden gehalten. Eine von der LPL, den Luxemburgischen Patrioten (= Luxemburger Patrioten Liga). Der Herr Betz, der Schullehrer, hielt eine Rede im Namen von Rollingen (= Lamadelaine).
(Zitiert aus der Rede) „… Wir haben Dich (= den Vater) nicht bei Deinem Sohn begraben dürfen (= Albert, der vorher gestorben war, lag auf dem Kirchhof von Holzen). Du hast ein Grab am Berg (= beim Bergwerk) bekommen, keinen Sarg. Und an ein Kreuz war nicht mehr zu denken.“
Albert wurde noch auf dem Friedhof von Holzen begraben. Der Vater wurde auf dem Friedhof am Berg begraben. Später hat man sie zusammen gelegt. Es kann aber auch sein, dass sie Albert noch vom Gemeindefriedhof exhumiert haben.

Sie haben ein Gedächtnis!

Ja (sichtlich erfreut über das Kompliment), ich wär auch gern zur Schule gegangen. Aber Mutter war immer traurig. Wir haben sie nie allein gelassen. Irma war arbeiten, eine Tochter war verheiratet, und die andere war bei Mutter. Wir konnten sie ja nicht allein lassen. Es hat mir schon sehr leid getan, dass ich nicht zur Schule ging. Aber dann wäre sie allein gewesen. Das sind alles Folgen dieses Unglücks. Ich spüre, dass ich mehr hätte lernen können. Ich lese auch immer viel. Ich geh immer suchen.
Meine Mutter hatte nicht mehr viel. Sie lebte so in den Tag hinein. Immer sprach sie vom KZ. Und ich sagte: Hör auf, Mutter! Sie war immer traurig.

Hat die Familie eine Rente bekommen?

Ja. Von der Firma und vom Staat die Halbwaisenrente. Die bekomme ich heute noch. … Ich war in Differdingen in der Haushaltungsschule und danach ging ich nach Luxemburg(-Stadt) in eine Schule, wo man Schneidern lernt. Sechs Monate. Ich wurde dann Näherin.
(Kommt mit Bildern der Eltern und des Bruders zurück.)

Die Mutter war ein Bauernmädchen?

Ja, sie kam aus Besch bei Echternach von einem großen Hof, zwölf Kinder. Vater war 51 Jahre, wie er starb. Albert war ein schöner Mann.

(Germaine verlässt den Raum, um etwas zu holen.)
Marie-Claire: Sie hat noch nicht ein Viertel von dem erzählt, was sie uns erzählt hat. Zum Beispiel: Dass ihr Vater mit dem Kopf gegen die Wand gerannt ist (= um sich nach Alberts Tod das Leben zu nehmen). Mein Vater (= Germaines Ehemann) hat ihr verboten, überhaupt darüber zu sprechen. Vielleicht, weil er nicht wollte, dass sie sich aufregt. „Fang Du jetzt nicht wieder damit an!“

(Germaine kommt mit Fotos zurück.)
Hier sind viele Briefe meines Bruders aus dem Arbeitsdienst. Ich musste immer schreiben. Meine Mutter diktierte, ich musste schreiben. Er war auch in Saloniki in Griechenland (= während des Arbeitsdienstes). Er war Dolmetscher. Er hatte Englisch, Lateinisch, Griechisch, Französisch gelernt.
Dies Album hat mein Bruder gemacht, von der Schule und vom Arbeitsdienst.

Ist es richtig, dass er die Schule verlassen musste, weil er den Direktor nicht gegrüßt hat?

Ja, das war auf einer Brücke. Er ging auf die andere Straßenseite, um ihn nicht grüßen zu müssen. …

Hier sind Briefe, die ich Mutter ins Gefängnis Grund (= in Luxemburg-Grund) geschrieben habe. Da war ich 14. Da braucht man eine Mutter. Ich hatte immer die beste Schrift von 56 Kindern in der Klasse.

Waren Vater und Albert in Grund in einer Zelle?

Nein. … Hier ist der letzte Brief von Albert aus Luxemburg. Da waren sie schon verurteilt. „Ich grüße Euch zum letzten Male aus der Heimat. …“ Zehn Tage später waren die Amerikaner da, da wären sie befreit worden.
Er wollte ja nicht in die Wehrmacht. Ein Dr. Johnes (?) hat ihm beigebracht, wie man einen Ischias vortäuscht. So kam er nicht zur Wehrmacht. Er ging mit einer Krücke und schreibt hier, dass er jetzt ohne Krücke geht.

30. August. Dann war er also nur ganz kurz in Rheinbach und kam sehr bald nach Hameln.

Marie-Claire: Sie hat noch immer Angst vom Krieg.

Die kamen uns nachts rausschmeißen. Morgens um 4 Uhr „Gestapo! Aufmachen!“ Wir waren ja zu zweit allein. Dann sperrten sie die Tür auf, kamen rein, in die Küche. Die Schränke aufgerissen, alles rausgeschmissen. Die gingen oben hinauf in die Zimmer, wo die Betten meiner Eltern standen, die deckten sie auf und fühlten, ob sie noch warm wären. Und dann gingen sie noch zum Speicher, und der Speicher hatte eine hohe gerade Treppe. Und da sagte meiner Schwester: Nun müsste einer die Treppe runterfallen; dann wäre er fort. Grauenhaft. Sie waren zweimal da. Die Gestapo kam aus Rodingen, da hatten sie eine Station. Da war der Sterzenbach, der war der Obermann. Da waren vier, fünf, sechs Mann.

Gab es Luxemburgische Hilfspolizei, die da beteiligt war?

Die Luxemburger durften ihre Uniform nicht mehr tragen. Das kam schon 1940. Die trugen dann deutsche Uniformen. Zu uns nach Hause kamen richtige Deutsche. Dann stehst Du da und zitterst. Das vergisst man nie. Das nimmt man mit ins Grab.

Luxemburg und Polen, das sind die Länder , die am stärksten im Krieg unter den Deutschen gelitten haben.

Ich erinnere mich noch gut, wie sie am 10. Mai 1940 kamen, wie sie uns überfallen haben. Da war ich daheim. Mein Vater war arbeiten, mein Bruder ging in die Schule. Auf einmal war er wieder zu Hause. Es fährt kein Zug, sagte er. Die „Preußen“ sind da. Das war alles, was er gesagt hat. Wir wurden evakuiert. Die eine Hälfte kam nach Frankreich, wir kamen für sechs Wochen nach Ösling (= das bewaldete, ländliche Nord-Luxemburg). Als wir wieder nach Hause kamen, da hatten wir nichts mehr. Die Hühner tot gemacht, die Schweine geschlachtet, keine Kaninchen mehr. Waren das die Soldaten – ich weiß es nicht.

Als Francois bei Ihnen zu Hause war, war Albert da noch im Reichsarbeitsdienst?

Da war er schon zu Hause. Aber er drückte sich vor der Wehrmacht. Mit dem Ischias, und er wurde am Blinddarm operiert. Er wollte nicht fliehen, denn dann wären wir zur Strafe nach Deutschland umgesiedelt worden.

Marie-Claire: Sie durfte nie erzählen. Das hat ihr Mann ihr verboten. Sie durfte nicht weinen.

Germaine und Marie-Claire, ganz schönen Dank!

 

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